Ein flandrischer Hirtenhund
Françoise Sagan

Monsieur Ximenestre hatte große Ähnlichkeit mit einer Zeichnung von Chaval: beleibt, stumpfsinnig im Ausdruck und im übrigen sympathisch. Doch in diesen ersten Tagen des Monats Dezember trug er eine tiefbekümmerte Miene zur Schau, die in jedem, der ihm begegnete und der ein Herz besaß, das wilde Verlangen erweckte, ihn anzusprechen.

Schuld an diesem Kummer trug das bevorstehende Weihnachtsfest, dem Monsieur Ximenestre, obwohl ein guter Christ, dieses Jahr mit Widerwillen entgegensah, denn er besaß nicht einen Groschen mehr, um Madame Ximenestre, die sehr auf Geschenke aus war, seinen nichtsnutzigen Sohn Charles und seine ausgezeichnet Kalypso tanzende Tochter Augusta zu bescheren. Nicht einen Groschen, genau das war seine Situation. Und von einer Gehaltserhöhung oder Anleihe konnte nicht die Rede sein. Beides war ohne Wissen Madame Ximenestres und der Kinder schon in Anspruch genommen worden, um dem neuen Laster dessen, der ihr Ernährer sein sollte, zu genügen - kurz, um die unselige Leidenschaft des Monsieur Ximenestre zu stillen: das Spiel.

Nicht etwa jenes banale Spiel, bei dem Gold über einen grünen Teppich rieselt, noch jenes, bei dem über einen anderen grünen Teppich Pferde jagen, sondern ein Spiel, das - in Frankreich noch unbekannt - unglücklicherweise in einem Café des Pariser XVII. Bezirks in Mode war, wo Monsieur Ximenestre jeden Abend am Heimweg einen roten Martini trank: das Spiel der kleinen Pfeile, das mit einem Blasrohr und Tausendfrancnoten gespielt wurde. Sämtliche Stammgäste waren vollkommen närrisch damit, bis auf einen, der aufhören mußte, weil er an Herzasthma litt. Ein Australier, den niemand in der Gegend kannte, hatte das aufregende Spiel eingeführt. Es hatte sehr bald zur Bildung einer Art von Klub geführt, der in dem rückwärtigen Saal tagte, wo der spielbegeisterte Wirt das kleine Billard geopfert hatte.

Kurz gesagt, obgleich seine ersten Versuche sehr vielversprechend gewesen waren, hatte Monsieur Ximenestre sich hier ruiniert. Was tun? Von wem sollte er noch Geld ausborgen, um die Handtasche, den Roller und den Plattenspieler zu bezahlen, die, wie er aus einigen sehr unzweideutigen Andeutungen bei Tisch wußte, von ihm erwartet wurden? Die Tage vergingen, in aller Augen begann die Vorfreude aufzuleuchten, und vom Himmel fiel munter der Schnee. Monsieur Ximenestre bekam eine gelbe Haut und hoffte krank zu werden. Vergebens.

Am Morgen des 24., als Monsieur Ximenestre das Haus verließ, folgten ihm drei Augenpaare mit beifälligem Blick, denn die tägliche Hausdurchsuchung von Madame Ximenestre hatte noch nicht zur Entdeckung der erwarteten kostbaren Pakete geführt. "Er läßt sich Zeit", dachte sie mit einiger Bitterkeit, aber ohne die geringste Unruhe.

Auf der Straße wickelte sich Monsieur Ximenestre seinen Schal dreimal um den Hals, und diese Geste führte ihm, sekundenlang, einen Ausweg vor Augen, den er glücklicherweise rasch wieder von sich wies. Er ging weiter in seinem schleppenden, gutmütigen Bärentrott und landete auf einer Bank, wo der Schnee ihn schnell in einen Eisberg verwandelte. Der Gedanke an die Pfeife, die Ledermappe und die rote, völlig untragbare Krawatte, die ihn, wie er wußte, zu Hause erwarteten, machte das Maß des Jammers voll.

Ein paar beschwingte Fußgänger, blaurot vor Kälte und um jeden Finger Bindfäden von Paketen geschlungen, kurz, Familienväter, die dieses Namens würdig waren, gingen an ihm vorüber. Eine Limousine blieb zwei Schritte von Monsieur Ximenestre entfernt stehen; ein Traumwesen mit zwei kleinen Spitzen an der Leine stieg aus. Monsieur Ximenestre, sonst gewiß kein Verächter des schönen Geschlechts, betrachtete die Dame ohne das geringste Interesse. Dann irrte sein Blick über die Hunde, und ein lebhaftes Leuchten trat plötzlich in seine Augen. Er befreite sich von dem Schneeberg, der sich auf seinen Knien gesammelt hatte, und mit einem Ausruf, den der Schnee, der ihm vom Hut in Hals und Augen stürzte, halb erstickte, richtete er sich behende auf.

"Zum Pfandstall", rief er aus. Der Pfandstall war ein ziemlich trostloser Ort voll trauriger oder aufgeregter Hunde, die Monsieur Ximenestre ein wenig erschreckten. Seine Wahl fiel  schließlich auf ein Tier von recht undefinierbarer Rasse und Farbe, das aber, wie man sagt, gute Augen hatte. Und Monsieur Ximenestre nahm an, daß unendlich gütige Augen notwendig wären, um eine Tasche, einen Plattenspieler und einen Roller zu ersetzen. Er taufte seine Errungenschaft sofort auf den Namen Médor, befestigte sie an einem Strick und betrat die Straße.

Médors Freude verschaffte sich umgehend in einer wilden Raserei Ausdruck und übertrug sich sehr gegen seinen Willen auf Monsieur Ximenestre, den so viel tierische Lebenskraft einfach überrumpelte. Er wurde ein paar hundert Meter weit in starkem Trab mit fortgezogen (die Bezeichnung "galoppieren" konnte man schon seit langer Zeit nicht mehr auf Monsieur Ximenestre anwenden) und landete schließlich bei einem Passanten, der etwas über "diese abscheulichen Viecher" vor sich hin brummte. Wie ein Wasserskifahrer überlegte Monsieur Ximenestre, ob er nicht lieber den Strick loslassen und nach Hause gehen sollte. Aber Médor sprang bellend und begeistert an ihm hoch, sein gelbliches, schmutziges Fell war voll von Schnee, und einen Augenblick lang dachte Monsieur Ximenestre, daß ihn schon lange Zeit niemand mehr so angeblickt hatte. Sein Herz schmolz. Er senkte seine blauen Augen in die kastanienbraunen Médors, und sie erlebten einen Augenblick unaussprechlicher Süße.

Médor kam als erster wieder zu sich. Er setzte sich wieder in Bewegung, und das Rennen nahm seinen Fortgang. Monsieur Ximenestre dachte vage an den blutarmen Dackel, den er neben Médor gesehen, aber überhaupt nicht beachtet hatte, da er der Ansicht war, daß ein Hund kräftig sein müßte. Im Moment flog er buchstäblich seinem Haus entgegen. Sie machten nur eine Minute bei einem Café halt, wo Monsieur Ximenestre drei Glas Grog und Médor drei Stück Zucker zu sich nahm. Letztere waren eine Spende der mitfühlenden Wirtin: "Und bei dem Wetter, das arme Vieh, nicht einmal einen kleinen Mantel hat es!" Monsieur Ximenestre, am Ende seiner Kräfte, antwortete nicht.

Der Zucker wirkte belebend auf Médor, doch was an der Tür der Ximenestres läutete, war nur noch ein Gespenst. Madame Ximenestre öffnete, Médor stürzte vor und Monsieur Ximenestre, schluchzend vor Erschöpfung, fiel in die Arme seiner Frau.

"Aber, was ist denn das?" Wie ein Schrei quoll es aus Madame Ximenestres Brust.

"Das ist Médor", sagte Monsieur Ximenestre, und in einer letzten verzweifelten Anstrengung fügte er hinzu: "Frohe Weihnachten, meine Liebe!"

"Frohe Weihnachten? Frohe Weihnachten?" kam es halb erstickt von Madame Ximenestre, "was willst du damit sagen?"

"Wir haben doch heute den 24.? Nicht wahr?" rief Monsieur Ximenestre, der in der Wärme der Geborgenheit wieder zu sich kam. "Und zu Weihnachten schenke ich dir, schenke ich euch", verbesserte er sich, denn seine Kinder kamen mit weitaufgerissenen Augen aus der Küche, "schenke ich euch Médor. Hier!"

Und mit entschlossenem Schritt begab er sich in sein Zimmer. Doch dort sank er sogleich aufs Bett und ergriff seine Pfeife, eine Pfeife aus den Kriegsjahren 1914 - 1918 von der er zu sagen pflegte, "die hat schon allerhand erlebt". Mit zitternden Händen stopfte er sie, zündete sie an, steckte seine Beine unter die Steppdecke und erwartete den Angriff.

Und kurz darauf trat auch sehr bleich - furchterregend bleich, dachte Monsieur Ximenestre bei sich - Madame Ximenestre in sein Zimmer. Monsieur Ximenestres erster Reflex war der eines Soldaten im Schützengraben: Er versuchte sich völlig unter seiner Steppdecke zu verkriechen. Es war nichts mehr von ihm zu sehen als eine seiner spärlichen Haarlocken und der Rauch seiner Pfeife. Aber das genügte dem Zorne von Madame Ximenestre:

"Kannst du mir sagen, was das für ein Hund ist?" "Er ist eine Art flandrischer Hirtenhund, glaube ich", entgegnete schwach die Stimme von Monsieur Ximenestre.

"Eine Art flandrischer Hirtenhund?" Madame Ximenestres Stimme wurde noch einen Ton schriller. "Und weißt du, was dein Sohn zu Weihnachten erwartet? Und deine Tochter? Ich, ich zähle nicht, das weiß ich... Aber sie! Und du bringst ihnen dieses abscheuliche Tier mit!"

Médor kam gerade rechtzeitig herein. Er sprang auf Monsieur Ximenestres Bett, legte sich neben ihn und bettete sein Haupt auf dem seines Herrn. Tränen der Zärtlichkeit, die glücklicherweise unter der Steppdecke verborgen blieben, traten seinem Freund in die Augen.

"Das ist zuviel", sagte Madame Ximenestre, "wahrscheinlich weißt du nicht einmal, ob der Hund nicht tollwütig ist!"

"In welchem Falle ihr zu zweit wäret", erwiderte Monsieur Ximenestre kalt.

Diese abscheuliche Antwort bewirkte Madame Ximenestres Abgang. Médor schleckte seinen Herrn ab und schlief ein. Um Mitternacht brachen Monsieur Ximenestres Ehefrau und Kinder, ohne ihm ein Wort zu sagen, zur Mitternachtsmesse auf. Ein leichtes Unbehagen überkam ihn, und um dreiviertel eins beschloß er, Médor für fünf Minuten hinauszuführen. Er band sein dickes Halstuch um und wandte sich mit langsamen Schritten der Kirche zu; Médor schnüffelte an jeder Haustür.

Die Kirche war überfüllt, Monsieur Ximenestre versuchte die Tür aufzudrücken - vergeblich. So blieb er denn, das Halstuch bis unter die Augen hinaufgeschoben, vor dem Kirchentor im Schnee stehen, und aus dem Inneren klangen die Gesänge der guten Christen an sein Ohr. Médor zerrte derart an seinem Strick, daß sich Monsieur Ximenestre schließlich niedersetzte und den Strick an seinem Fuß befestigte. Kälte und Aufregung hatten den ohnedies nicht sehr beweglichen Geist Monsieur Ximenestres nach und nach erstarren lassen, so daß er nicht mehr wußte, was er tat. Außerdem wurde er von der Flut der ausgehungerten Gläubigen überrascht, die sich sehr überstürzt aus der Kirche ergoß. Er hatte nicht mehr die Zeit aufzustehen und den Strick zu lösen - schon hörte man eine junge Stimme ausrufen: "Oh, der hübsche Hund! Oh, der arme Mann!... Warte, Jean Claude."

Und ein Hundertfrancstück fiel auf die Knie des halbbetäubten Monsieur Ximenestre. Stammelnd stand er auf, und der mit Jean Claude Bezeichnete gab ihm, gerührt, noch ein Geldstück und den Rat, angenehme Weihnachten zu verbringen. "Aber", stammelte Monsieur Ximenestre, "aber, ich bitte Sie . . ."

Jeder weiß, wie ungeheuer ansteckend Wohltätigkeit sein kann. Alle, oder fast alle Gläubigen, die durch das rechte Kirchenschiff herauskamen, entrichteten Monsieur Ximenestre und Médor ihren Obolus. Halb betäubt und ganz mit Schnee bedeckt, versuchte Monsieur Ximenestre vergebens, sie davon abzuhalten.

Madame Ximenestre und ihre Kinder hatten die Kirche durch das linke Schiff verlassen und waren nach Hause gegangen. Bald daraufkam Monsieur Ximenestre, entschuldigte sich für seinen Scherz vom Nachmittag und gab jedem von ihnen die entsprechende Summe für sein Geschenk. Das Weihnachtsessen verlief sehr vergnügt. Dann legte sich Monsieur Ximenestre neben Médor, der mit Truthahn vollgestopft war, zu Bett, und sie schliefen beide den Schlaf der Gerechten.



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