Der Heilige Nachmittag
Klaus Nonnenmann


""Wenn ich Sie recht verstehe, Herr Direktor." Der Herr Direktor betonte durch ein Räuspern, daß man ihn recht verstehe, und er erklärte dem jungen Prokuristen, Weihnachten sei am Vierundzwanzigsten. Schon 1812 - doch was er sagen wolle: seit der gute alte Wellersburg im Nordfriedhof zur letzten Ruhe...

Er unterbrach das Nekrologische mit leichtem Stimmschatten und starrte auf die Fingernägel. Dann überwand er sich und äußerte die Chefansicht, man hoffe, daß auch ihm, einer noch jüngeren und raumfremden Kraft, gelingen werde, was der gute alte Wellersburg...

Der junge Prokurist erlaubte sich zu versichern, daß ihm alles gelinge, und als Betriebsausgaben seien VOLL abzugsfähig:
a) Die Feier an sich.
b) Das dreizehnte Gehalt mit Hundertmarkgrenze für die Lohnsteuer.
c) Punktbeträge zuverlässiger Arbeiter. Und nicht zu vergessen:
d) Geschenke, die üblich seien, demnach sogenannte übliche Geschenke, wie sie im Einkommensteuergesetz...
 

Der Herr Direktor zeigte sich, wie er ohne ein Räuspern betonte, zutiefst und bestens befriedigt. Es wäre nett, sagte er dann in gelungener Verlegenheit, ihm eine kleine Rede aufzusetzen, so an die acht Minuten vielleicht. Der gute alte Wellersburg habe ihn immer mit verblüffendem Talent unterstützt, auch was die spezielle Feierstimmung eines gesunden Mittelbetriebes betreffe. Denn man dürfe nie vergessen (der junge Prokurist zeigte durch einen Devotionsblick auf den geölten Urchef an der Wand, daß auch er nie vergaß): der Betrieb, seit 1812 in Familienbesitz, habe sich stets und sonders bemüht, der werten Kundschaft wie auch den Angestellten und Arbeitern gegenüber reell und hundertprozentig -also wenn es nach ihm gehe, man brauche weder Gewerkschaft noch Polizei, kurz und gut: am Vierundzwanzigsten, wie immer.

Vor allem müsse die Sache mit Stefan delikat behandelt werden. Äußerst delikat! Der Mann habe Einfluß.

Der junge Prokurist erlaubte sich die Schlußbemerkung, er habe schon einige Male beim Militär, und in weit größeren Formationen, führend mitgefeiert. Dann stand er auf und rückte den Oberkörper zu einer Verbeugung, die als stumpfer Winkel anzusprechen wäre, knappe 170 Grad und von zivilem Anstand. Der Herr Direktor sah es mit Freude und bot die Hand.

Zwei Wochen machte der junge Prokurist schöpferische Überstunden. Er konsultierte die Human Relation Corporation of Germany, vormals Cosmetic-Salon Mayer & Dieterle, und ließ zehn renitente Arbeiter testen. Er schuf aus weiblichen Hilfskräften das Festkomitee und gab dreimal Bier mit Würstchen als abzugsfähige Frohe Botschaft.

Er übte, auf Testformularen der Mayer & Dieterle Corporation, die Stille Nacht als Verfremdungseffekt und befahl, alle Verse zu hektografieren. Zwei Heimatkünstler erhielten Aufträge in Glanzpapier. Eine Fünfmetertanne starb. Die Lederscheren und Riesenstanzmaschinen, alle Schärfrollen und Klebetische wurden Lebkuchen, Zimtsterne und Frohes Fest mit Immergrün. Ein Transparent zeigte Bethlehem mit einem Schwebeengel aus Indisch-Ziegenleder.

Dann war, wie seit 1812, Heiliger Abend.

Er fand im Saale statt, und nachmittags, punkt dreizehn Uhr fünfundzwanzig, nach der tariflichen Mittagspause. Die Vorhänge waren geschlossen, denn Dunkel sei immer besser, wie auch Mayer & Dieterle bestätigte.

Man begann mit Herumstehen, Streichholzkult und verlegenen Gesichtern. Die Arbeiter schauten auf ihre Hände, die Angestellten korrigierten Strumpfnähte und Krawattensitz.

Dann ging das Portal, und herein traten die Drei Könige: der Regierungspräsident, der Herr Direktor und der junge Prokurist, die Festpapiere in der Hand.

Das geliehene Harmonium orgelte, und die Gesichter beugten sich aufs Hektogramm, vor allem ab Vers drei. Während die Belegschaft sang und sich ein wenig genierte, strich der junge Prokurist diskret Punkt eins bis drei: Betriebsappell - Einzug - Gemeinsames Lied.

Als Festkrise galt Punkt vier. Das bestätigten Komiteekräfte, Militärerfahrung und Mayer & Dieterle. Es sei dramatisch vorzugehen. Das gelang:

Als im Harmonium der letzte Hauch erstarb (schon hustete ein Lehrling in die Stille, und zwei Kuchenteller fielen), erhob der junge Prokurist den Zeigefinger: die Fünfmetertanne flammte auf. Doch nicht nur so! Dezemberlich matt etwa, mit Watte beschneit, wie sie in Schwimmbädern und Ratshäusern herumstehen - nein! Sie selbst war Licht geworden, ein bunter, lauter Farbenfächer, erhaben wie eine Eisrevue, und keinesfalls mehr grün und Tanne.

Ein glücklich lautes: Ah! schuf Gemeinschaft und freudige Disziplin. Das unerhört verschwenderische Licht, im übrigen voll abzugsfähig, wurde Magnet und blieb doch Grenze: man wandte sich ihm zu, geblendet und ergriffen.

Der junge Prokurist strich dankbar stolz Punkt vier imProtokoll, er winkelte kaum sichtbar seinen Oberkörper.

Der Herr Direktor räusperte, zerknüllte sein Manuskript und ging zum Podium. Es stand im Licht. Improvisiert, wie man so sagt, aus Lederballen, Futterstoff und Preß platten einer Stanzmaschine kühn gewürfelt - Heiligung der Werkatmosphäre, auch dem Höchsten vertraut und lieb. Das gelte neuerdings, wie auch Mayer & Dieterle bewiesen, als publikumssicher und unerhört modern (erst vor zwei Tagen sei der Herr Sozialminister fast vom Kran gefallen, als er die Sektfiasche warf).

Der Herr Direktor sprach zum Heiligen Abend und berührte - in losem Plauderton - folgende Festgedanken:
ad 1. Geburt.
 1812 - Der Urchef mit zwei Urgetreuen beim Rosinenstollen. Eine Kerze auf der Rotweinpulle. Schmierige Fäuste, doch glänzender Blick. Perspektive: Völkerschlacht bei Leipzig.

ad 2. Liebe.
 In Familienbesitz. Begriff der Kindschaft - Punktsystem und Akkordleistungen. Gemeinsame Nächte im Luftschutzkeller. Beteiligung am Umsatz.

ad 3. Verfolgung.
 Finanzamt. Gewerkschaften. Schutzzölle für Schwedenstahl. Kommunismus - Sittenlosigkeit und Amerikanismus. Preistrübung durch Versandhäuser. Intrigenspiel bei Wehraufträgen.

ad 4. Glaube! Hoffnung.
 Ansteigende Bilanz. Importschnalle aus Schweden. Wiedervereinigung in Friede und Freiheit, somit Ausdehnung der Lederbranche nach Osten. Stabilität und Gehorsam, erst recht nach gewissen, sehr, sehr schmerzliehen - Personalveränderungen!

Bei diesen Worten suchten seine Augen den Werkmeister Stefan, aber er sah nichts im Kerzendunst, räusperte, wünschte gesegnete Feierstunde und putzte die Nase.

Während als halber Punkt sechs, doch kaum bemerkenswert, das Harmonium präludierte, klatschte die Belegschaft und nahm plaudernd und erleichtert Platz. Plötzlich ließ der Organist mit elf Registern die Kinderlein kommen und auf eigene Verantwortung! Alles sang mit, herzlich und ohne Hektogramm, der bleiche Prokurist sah es mit Wohlgefallen und lächelte. Er flüsterte mit Mädchen seines Komitees und ging diskret hinaus.

Das Fest galt als gerettet. Die Stimmung wurde liberal. Es gab Kaffee mit Streuselkuchen, auch Schnaps und Likör zur seelischen Erneuerung. Der Herr Regierungspräsident ließ es sich auch dieses Jahr nicht nehmen, zwischen kichernd errötenden Hilfskräften traulich Platz zu nehmen. Der Herr Direktor saß, wie seit 1812, neben dem jüngsten Lehrling, dessen Konfirmandenanzug spannte.

Man prostete sich zu, man rauchte, öffnete verstohlen Blusenknöpfe und Gürtelspangen, schmauste absetzbares Freigut, sprach von Spur 00 und geschmorter Gänseleber.

Das ging famos und galt als dehnbarer Festpunkt sechseinhalb bis acht. Doch nach einer halben Stunde spürte selbst der fromme Regierungspräsident, der es sich nicht nehmen ließ, zu schäkern, daß irgend etwas nicht geschah. Die Stimmung wurde ranzig. Von hinten kam ein matter Ruf: Hier ist noch Schnaps im Glas!

Tuschelnd und vor der schweigenden Belegschaft (wo bleibt mein Prokurist?!) erfuhr der Herr Direktor das Unfaßbare. Gerührt sahen seine Leute des Allerhöchsten Schweißperlen. Keiner begriff etwas, doch jeder fühlte. Man flüsterte - und dann geschah die Katastrophe:

Werkmeister Stefan klopfte an sein Glas, erhob sich, hatte Ärger mit dem eingezwängten Stuhl, wurde verlegen und stotterte: "Herr Präsident, verehrter Herr Direktor! Ich spreche wohl im Namen der Belegschaft."

Das tat er. Schwerfällig erst, dann, durch Likör und Sympathie getragen, frei und leidenschaftlich: "Es begab sich aber zu der Zeit" - er, Stefan, zitierte sicher fehlerhaft die Weihnachtsbotschaft, und er sprach von der Geburt, er wagte es, davon zu sprechen. Vor seinen Genossen wagte er es, und vor dem Familienbesitz. Wie auf Postkarten, meinte er, müsse einem ums Herz sein, so mit Rehchen und rotem Licht, und das sei überhaupt schlimm, daß es nie mehr schneien wolle. Seine Mutter habe sogar verlangt zu beten. Da sei was dran!

Seine Nase tropfte, er keuchte und versprach sich, aber es blieb still, und alle schauten auf ihr Besteck. Dann kam Stefan, umständlich über vier Enkelkinder, ein bißchen Weltkrieg und Rheumabeschwerden, zum Ende und bat um Entschuldigung.

Eigentlich, sagte er feierlich, wolle er nur danken für den Kuchen und so. Aber da sei noch die Geschichte vom Oktober, wo er so gebrüllt habe, der Laden hier - er bitte um Vergebung - der Laden und alles hänge ihm zum Hals heraus, und am Heiligen Abend sei Feierabend. Ja, gewiß, er habe gebrüllt, aber so schlimm sei ja der Laden gar nicht, und wenn man erlaube, bleibe er noch ein bißchen, obwohl er schon in der Rente sei.

Er erhob feierlich fragend seine dicken Hände, das wirkte fast lächerlich, aber die Belegschaft klatschte warm. Als ein junges Ding von Mädchen Stefan die Wange küßte, rief man Bravo, und Stefan war ein Held.

Der Herr Direktor strich, wenn auch nur innerlich, die geheimen Festpunkte neun bis zehn: Rauswurf Stefans mit Blumenrede und Ledermontur. Er gab unter Applaus dem Werkmeister seine Hand und spürte, daß er Gefahr lief sich zu freuen.

Endlich kam der Nikolaus, alle merkten sofort, daß es der junge Prokurist war. Man jubelte und fand die Idee originell. Es gab übliche Geschenke, wie sie Sitte und Einkommensteuergesetz preisen - Rasierklingen, Klassikergedichte, graue Socken und Briefpapier. Doch jedermann war zufrieden.

Dann kam das Bier mit Würstchen, man stritt und lachte. Eisig murmelte der Herr Direktor seinem Weihachtsprokuristen zu: Menschenskind, wie konnte das passieren?!

Der junge Prokurist erlaubte sich, unter dem Wattebart schnaufend, zu bemerken, Darmschwäche, oder auch Diarrhöe genannt, sei der einzige Gefühlsimpuls bei Feierstunden, den er nicht unterdrücken könne. Und -- bereits kostümiert - habe er ihn zweimal zehn Minuten gekostet. "Immer mit der schweren Ledermontur, Herr Direktor!" Was mit ihr geschehen solle?!

Der Herr Direktor winkte müde und erwähnte kurz, das sei dem guten alten Wellersburg denn doch nie, kurz und gut, es sei schon gut - und weg das Ding! Der junge Prokurist und Weihnachtsmann bat mit einem Hieb seiner Rute um gefällige Ruhe und Aufmerksamkeit. Vor der beklommenen, entsetzten, jubelnden Belegschaft zog er sich auf der Bühne aus und stand in einer prachtvollen Ledermontur für Motorradfahrer da - mit Schulterstücken, farbigem Revers und roten Kordellitzen an der Hose: Traum aller selbstmordfreudigen Rennfahrer.

"Das, meine Freunde", er lächelte wie Öl, "ist ein Geschenk für unseren verehrten und noch ein bißchen bleibenden Werkmeister Stefan!"

Der erhob sich, umbraust von Beifall, dachte an den Winter, die leidige Gicht, und Tränen kamen ihm vor Freude. "Echt Wiener Kalb", hörte er den Prokuristen und wand sich durch die Stühle, "mit Rindlederrücken und Saffianfutter - eine Originalhandarbeit unseres großartigen Betriebes!" Stefan ging durch den Gang und schluckte trocken. Doch als er den Blick seines Direktors sah, trank er vom Schnapsglas des Regierungspräsidenten, ohne sich zu entschuldigen.


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